Gleich vorweg, wegen dem Gesetz über Werbung und so: Ich habe das Buch freundlicherweise gratis erhalten, um eine Rezension zu schreiben, aber keinerlei inhaltliche Vorgaben bekommen, also alles was hier steht, ist auf meinem Mist gewachsen. 🙂
Das Buch Leaf to Root – Gemüse vom Blatt bis zur Wurzel von Esther Kern (Journalistin und Gastrokritikerin), Sylvan Müller (Food-Fotograf) und Pascal Haag (Rezeptentwickler, Koch) ist einfach umwerfend genial ! Es zeigt auf, welche Teile von Pflanzen man durchaus verwenden kann, die man bisher meistens einfach nur ignoriert beziehungsweise entsorgt hat. Man kann gleichzeitig sowohl neue Geschmacksrichtungen entdecken wie auch vermeiden, von der Pflanze den Grossteil einfach nur wegzuwerfen.
Ohne es bewusst bemerkt zu haben, hab ich auf genau dieses Buch schon eine Ewigkeit gewartet. Warum ? Weil es darin nebst 70 vegetarischen Rezepten auch um eine bestimmte Einstellung geht: den Lebensmitteln gegenüber, der Erzeugung der Lebensmittel gegenüber und in Bezug auf unsere Wegwerfgesellschaft. Und, weil es mir wieder ganz neue Ideen liefert.
Hier eine kurze Neben-Anekdote, die – wie ich finde – dazu passt: Mein Mann und ich waren mit Freunden auf einer Hütte. Auf meine Frage hin, wieviel Spaghetti ich in den Topf werfen soll, hab ich folgende Antwort bekommen: “Nimm einfach alle, wenns zu viele sind, werfen wir den Rest einfach weg, weil die sind ja eh so billig“. Da hat sich bei mir sofort etwas quergestellt. Und zwar im rechten Winkel. Weil ich an den sehr langen Weg denken muss, den die Spaghetti nehmen müssen: von der Aussaat des Getreides ausgehend bis sie endlich in der Packung stecken – wieviel Arbeit und Energie und wieviele Ressourcen dahinter stecken !
Aber in diesem Buch geht es natürlich nicht um Spaghetti, sondern um Pflanzen.
Ich hab mir beim Lesen und beim Schmökern durch die Rezepte gleich einen ganzen Garten gewünscht (ohne die anstrengende Arbeit dazu natürlich), voll mit all diesem Gemüse in unterschiedlichen Wachstumsstadien, die hier beschrieben werden: Ausgewachsener Brokkoli und Blumenkohl, von denen ich mir die Stängel abschneiden könnte, nach der Ernte stehen gelassener Rosenkohl, dessen Blätter süss werden, wenn sie anfangen gelb zu werden und von denen ich im nächsten Jahr die Blüten verwenden könnte, Bohnenblätter aus denen ich Chips machen könnte … wenn ich einen Garten hätte.
Es wird wahrscheinlich noch einige Zeit dauern, bis man zum Beispiel junge Erbsen-Triebe im Handel bekommt, aber die Buchautoren leisten hier absolute Pionierarbeit, und vielleicht werden wir es genau ihnen in ein paar Jahren zu verdanken haben, wenn wir im gewöhnlichen Supermarkt mehr von einer Pflanze zu sehen bekommen als bisher, beziehungsweise andere, bis jetzt ungenutzte Teile einer Pflanze.
Zu Beginn des Buches gibt es einen ausführlichen Round Table zu den Fragen:
Was bedeutet Leaf to Root ?
Sind spezielle Gemüseteile bald Alltag ?
Wie werden Ernährungstabus zugunsten der Vielfalt gebrochen ?
Und bei welchen Lebensmitteln heisst es “Finger weg!” ?
Es werden historische Hintergründe beleuchtet, es wird von Vermeidungs-Strategien und Tabus gesprochen und am Ende des Kapitels hat man auf einmal keine Ahnung mehr, warum denn um alles in der Welt man noch nie das Karottenkraut ausprobiert hat. Warum man noch nie auf die Idee gekommen ist, dass es eigentlich geniessbar sein könnte, und dass es einem vielleicht sogar schmecken könnte !
In Portugal gibt es ein Rübenkraut, das heisst “Grelos” (sprich: Greljosch): Es ist leicht bitter und man bekommt es manchmal sogar mit kleinen gelben Blütenknospen. Es wird einfach in der Pfanne mit Olivenöl kurz gedünstet, dann nur mit Salz und Pfeffer und eventuell Knoblauch gewürzt, und am Schluss wird in der Mitte des Grelos in der Pfanne noch ein Spiegelei gegart:
Grelos schmeckt leicht bitter, aber wenn man sich einmal in dieses Grünzeug verliebt hat, dann geht es einem in Österreich richtig ab.
Die Rüben von Grelos werden in Portugal einfach weggeworfen oder als Futtermittel verwendet, und bei uns werden diverse Rüben gegessen und das Kraut wird entsorgt:
Das sollte einem irgendwie zu Denken geben, oder ?
Das Buch Leaf to Root hilft definitiv dabei: Beim Nachdenken über unsere Ess-Gewohnheiten. Es wird betont, dass man von Tieren ja auch nicht nur das Filet isst, sondern so viel wie möglich davon verwertet (“Nose to Tail”). Dasselbe Prinzip sollte laut Autoren auch für essbare Pflanzen gelten.
Ich hab vorgestern zufällig am Markt frische Erbsen in der Schale gekauft. Die Schalen hab ich im Kühlschrank aufgehoben, weil ich es schade fand, so viele davon einfach wegzuwerfen (meine Idee war, sie später als Suppengrün zu verwenden). Als Kind hab ich die Erbsen-Schoten im Garten frisch von der Ranke gepflückt und nach dem Auslösen der Erbsen die Schalen einfach gekaut, weil ich den Geschmack der Schalen sehr mochte, und am Schluss hab ich die Fasern ausgespuckt. Aber sowas kann man wahrscheinlich nicht von irgendwelchen Gästen erwarten – das mit dem Fasern ausspucken.
Und gerade da ist rechtzeitig das Buch Leaf to Root bei mir angekommen !
Ich hab sofort im über 60 Seiten langen Kompendium bei Erbse nachgeschlagen und da gab es gleich einige Ideen, was man mit Erbsen-Schoten so alles anstellen könnte:
Man kann die Schoten schälen ! Wer hätte das gedacht !? Ich hab das bei einer Schote ausprobiert: man muss die dünne pergamentähnliche Haut an der Innenseite der Schote abziehen, dann kann man die Schote essen, ohne dass man Fasern spuckt. Und sie ist somit genauso zart wie junge Zuckererbsen-Schoten, die direkt zum Essen gedacht sind.
Ich war sehr positiv überrascht, aber das Schoten schälen braucht eine Unmenge an Geduld, weil man die Schale von der Schote nicht in einem abziehen kann, da sie oft einreisst. Aber laut Esther Kern ist “heute der Luxus also nicht mehr der Kaviar, sondern die Arbeit“.
Ich hab mir den Luxus des Schoten-Schälens aber dann doch nicht gegönnt und mich für den nächsten Vorschlag entschieden, nämlich die Schoten zu entsaften. Ich wollte mir auch das Putzen vom Entsafter sparen, also hab ich die Schoten einfach zusammen mit etwas Wasser mit dem Stabmixer zerkleinert und dann durch ein Sieb den Saft aus dem Püree herausgepresst. Und dieser Saft war einfach richtig richtig gut – er schmeckt nach Kindheit im Garten: ganz zart bitter, etwas süss und auch etwas grasig. Das Buch ist voll mit lauter solchen guten Ideen, auf die man selbst einfach nie kommen würde !
Es gibt auch einige aufschlussreiche Interviews mit Pionieren, die sich schon seit langem damit befassen, möglichst Alles von einer Pflanze zu verwerten: Es kommen die deutschen Sterneköche Andree Köthe und Yves Ollech vom Restaurant “Essigbrätlein” in Nürnberg zu Wort; sowie der Bauer Søren Wiuff (Lieferant von Kopenhagens Avantgarde-Köchen); Rebecca Clopath, eine der innovativsten Jungköchinnen in der Schweiz; und Johann Reisinger, ein österreichischer Spitzenkoch.
Der Sensorikerin Christine Brugger werden ungewöhnliche Pflanzenteile serviert und von ihr für die Leser analysiert. Und der Lebensmittelchemiker Norbert Fischer erklärt, warum wir eigentlich recht wenig wissen und warum wir uns in der ersten Euphorie über mögliche kulinarische Neuentdeckungen doch nicht gleich alles in den Mund stecken sollten.
Und falls jemandem all diese absolut wissenswerten und gut recherchierten Information nicht ausreichen sollten: Es gibt ja noch die 70 vegetarischen Rezepte, die einem einfach das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen: Ich zumindest kann es jetzt kaum mehr erwarten, bis es wieder Herbst wird (noch bevor der Sommer begonnen hat), weil ich dann am Markt wieder frischen Mais mit Maishaar kaufen kann – und daraus wird dann “Mais-Parfait mit frittierten Maishaaren” gemacht. *
Ich bin übrigens jetzt schon der Meinung, dass dieses Buch zu einem absoluten Klassiker werden wird !
Und hier gibt es die Links zum Buch auf Amazon:
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* Mais-Parfait mit frittierten Maishaaren, fotografiert von Sylvan Müller: